Was für Marina Seidel zählt

Artikel von Stephan Stöckel im Obermain Tagblatt vom 10.08.2023

'Hello Again – ich will dir gegenüberstehen'

Welcher Howard Carpendale-Fan möchte das nicht? Marina Seidel aus dem Altenkunstadter Ortsteil Woffendorf hatte das Vergnügen. Als Backgroundsängerin begleitete sie ihn auf seiner Deutschland Tournee 2015. Und erlebte einen Star ohne Staralüren.

„Howie, wie er von seinen Fans liebevoll genannt wird, ist wirklich Mensch geblieben. Ich habe ihn als freundlichen, lustigen, neugierigen und offenen Menschen kennengelernt“, erzählt die 51-jährige.

Seidel hatte sich als Leiterin des Gospelchores „Joy In Belief“ einen Namen in Franken gemacht. Dass sie einmal die Bühne mit Howard Carpendale teilen würde, daran hätte die oberfränkische Sängerin nicht im Traum gedacht. Doch unverhofft kommt oft. Das Telefon klingelt und in der Leitung hat sie den Mitarbeiter einer großen Konzertagentur.

Ins kalte Wasser geworfen

Die 22 Sängerinnen und Sänger des Gospelchores werden regelrecht ins kalte Wasser geworfen. Eine Probe gibt es nicht. „Der Herr sagte nur: Wenn ihr so gut seid, wie jeder sagt, dann wisst ihr ja, was ihr zu tun habt“, erinnert sich Seidel. Die Sängerinnen und Sänger aus Franken hauchen Howie das „Ti Amo“ so gefühlvoll in die Ohren, dass aus dem ursprünglich geplanten einen Konzert in der Hofer-Freiheitshalle vier werden. Mannheim, Frankfurt und Erfurt gesellen sich noch hinzu.

Der Abschied von Carpendale ist ihr in Erinnerung geblieben. Der Sänger habe sich mit Handschlag verabschiedet und sich dabei im Small-Talk verloren. Da sei plötzlich der Tourneemanager vorbeigekommen und habe mit dem Finger auf seine Uhr gedeutet: „Howie wir müssen weiter“.

Das Geschäft geht vor. Schon des Öfteren klopft das Musikbusiness bei Seidel an, doch das große Tor zur Profimusikkarriere hat sich für sie bislang noch nicht geöffnet.

„Gott wird mir dabei helfen.“ Dieser Satz aus dem Munde von Gospelsängerin Jane Russel von den „Glory Gospel Singers“ aus New York hat sich fest eingebrannt in das Gedächtnis der Woffendorferin. Für die heute 51-jährige waren ihre Worte nach einem Gospelkonzert in Hof Aufmunterung und Ansporn zugleich. Sie hatten vor 27 Jahren einen musikalischen Stein ins Rollen gebracht, der Stoff bietet für einen Künstlerroman, in dem nicht ein hochdotierter Musikprofi, sondern eine Hobbysängerin aus Leidenschaft im Mittelpunkt steht, die im Jahr 2000 den Gospelchor „Joy In Belief“ gründet.

Musik und Glaube

Was bedeuten Seidel Musik und Glaube? „Sie sind zwei unheimliche Kraftquellen für mich. Sie schenken mir Freude, Hoffnung und Zuversicht“, sagt die 51-jährige. Ihr Lebenslauf ist gespickt mit weiteren Höhepunkten: 2008 wird die Hobbysängerin vom Radiosender Bayern 3 zu Oberfrankens Stimme gewählt. Beim Chor-Musikwettbewerb international im italienischen Verona holt sie 2018 mit „Joy in Belief“ die Auszeichnung Bronze. Zu Solokonzerten strömen Tausende in den Festsaal der Hofer Freiheitshalle.

Nicht nur die Höhenflüge geben sich bei Seidel die Klinke in die Hand, ab und an grätscht auch ein Nackenschlag dazwischen. Bei einer renommierten Hamburger Musicalschule besteht sie 2003 die Aufnahmeprüfung, doch dann erkrankt ihre Tochter an Krebs. „Das volle Programm“, verfinstert sich Seidels Miene. Chemotherapie, Operationen und die Ungewissheit, wie alles ausgehe – an eine Musicalkarriere sei da nicht zu denken gewesen.

Am Ende heißt es „Gott sei Dank!“ Die Tochter hat den Krebs besiegt. 2011 bahnt sich der nächste mögliche Sprung auf der Karriereleiter an. Seidel begeistert bei einer Vorauswahl zur Sendung „The Voice“ auf Pro 7 mehrere Jurys mit ihrem ausdrucksstarken Gesang. Die Freude, bei der Fernsehshow mitwirken zu dürfen, weicht der Ernüchterung. Der Vertrag, den sie hätte unterschreiben müssen, verbietet andere Engagements. Eineinhalb Jahre hätte sie sich in die Dienste des Fernsehsenders stellen dürfen. Seidel entschließt sich dagegen und „für ihre künstlerische Freiheit“, wie sie wörtlich betont.

Haarscharf vorbeigeschrammt

Von einem Bedauern, immer wieder haarscharf an der großen Karriere vorbeigeschrammt zu sein, ist bei der 51-jährigen nichts zu spüren. Wenn sie Musik mache, dann komme das von innen heraus. Und das spürten auch die Zuschauer. „Weil ich es will und nicht weil ich es muss“, schiebt sie der Fremdbestimmung einen Riegel vor.

Doch ein Hintertürchen lässt sich die kaufmännische Angestellte offen: „Wenn ein Manager vorbeikommt, der mir den Freiraum zur musikalischen Entfaltung gibt, dann würde ich nicht nein sagen.“


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